Reto Bieris Team kommt, wenn alle anderen gehen

360 Grad, 6. Ausgabe (Winter 2009)

09.30 Uhr auf Corviglia. 30 Pisten sind geöffnet. Die zahlreichen Skifahrer und Snowboarder sind glücklich über die guten Schneeverhältnisse. Ein Ehepaar jedoch steht an der einzigen gesperrten Piste und ärgert sich. "Ihr hattet wohl keine Lust mehr, die zu präparieren", beschwert sich der ältere Herr bei Pistenchef Reto Bieri, der gerade auf Skiern zur Absperrung kommt. Dieser beruhigt den aufgebrachten Gast und erklärt: "So schön das Wetter jetzt auch wieder ist, heute Nacht hatten wir starken Nebel und 30 Zentimeter Neuschnee. Trotzdem arbeiten wir seit 2 Uhr nachts mit zwölf Pistenmaschinen." Der Gast beruhigt sich schnell und möchte von Reto Bieri mehr über die Schneeproduktion und Pistenpräparierung erfahren. Dieser gibt, obwohl er eigentlich alle Hände voll zu tun hat, bereitwillig Auskunft."

"Wir beginnen bereits im November mit der Schneeproduktion", erläutert der Pistenchef. "Denn es gibt ja nicht immer so viel Schnee wie im Moment." Da für die Bergbahnen ENGADIN St. Moritz AG dauerhafte Qualität wichtiger als Quantität und Sicherheit oberstes Gebot ist, ruht der erzeugte Schnee drei Tage auf einem Haufen. "So kann das Wasser nach unten wegziehen", erklärt Reto Bieri dem vor wenigen Minuten noch so verärgertem Paar, das nun interessiert zuhört. Der 36-Jährige hat schon erlebt, dass Gäste zu Beginn der Saison am noch ruhenden Schneehaufen standen und darüber sprachen, dass man damit die noch geschlossenen Pisten ja längst hätte präparieren können. "Es liegt aber definitiv nicht daran, dass wir zu faul dafür sind", so Bieri, "sondern dass wir unseren Gästen gut präparierte und natürlich auch sichere Pisten anbieten wollen. Würden wir den Schnee nicht ruhen lassen, würde sich auf der Piste immer wieder Eis bilden und wir hätten den ganzen Winter über damit Probleme."


180 Hektar Pistenfläche, das entspricht etwa 255 Fußballfeldern, müssen die Mitarbeiter der Bergbahnen ENGADIN St. Moritz AG allein auf Corviglia jeden Tag aufs Neue präparieren. Zwölf Pistenmaschinen - mehr als die Hälfte davon sind übrigens bereits freiwillig mit Rußpartikelfiltern ausgestattet - sind dafür im Einsatz, was die Unternehmung jede Nacht gut CHF 32.000 kostet. "Normalerweise kommen wir, wenn alle anderen gehen", sagt Bieri schmunzelnd.

 

Um 16.30 Uhr bespricht der Pistenchef mit den beiden Fahrerchefs alle Details der folgenden acht bis zehn Arbeitsstunden. Danach rücken die Pistenmaschinen aus. Bei normalen Wetterverhältnissen sind alle Hänge spätestens um 5 Uhr in der Früh bereit für den Ski-Tag. Schneit oder stürmt es jedoch stark, dann wäre die Piste bei solch einer Vorgehensweise am Morgen nicht befahrbar. "In so einem Fall legen wir erst um 2 Uhr nachts los und gehen dabei nach einer Prioritätenliste vor", so Bieri, "aber es kann dann halt vorkommen, dass um 8 Uhr noch nicht alles fertig ist, zumal man einrechnen muss, dass die Piste nach dem Präparieren mindestens eine Stunde Ruhe benötigt." Jede Piste hat ihren Stamm-Fahrer, was gerade bei schwierigen Verhältnissen wichtig ist. "Dieser kennt dann jeden Zentimeter und weiß, worauf es bei der Arbeit ankommt."

 

Manchmal ist es auch ein drohender Lawinenabgang, der Bieri und seinem Team einen Strich durch die Rechnung macht. "Sicherheit geht vor", sagt der Pistenchef, der in solchen Fällen in engem Kontakt zu SOS-Chef Peter Locher steht. "Lawinen können nur tagsüber gesprengt werden, da wir gute Sicht benötigen", erklärt Bieri, warum manche Pisten nicht in der Nacht gesichert und präpariert werden können.

 

Den Unmut von Skifahrern und Snowboardern zieht sich der Bergbahner vor allem dann zu, wenn im laufenden Betrieb eine Piste gesperrt werden muss. Aber auch hier gilt: "Wir wollen zwar möglichst viele geöffnete Pisten haben, aber die Sicherheit steht immer an oberster Stelle. Und wenn wir eine Piste sperren, tun wir das bestimmt nicht, um unsere Gäste zu ärgern. Es gibt immer einen triftigen Grund dafür. Es ist halt Natur und keine Kunstwelt."

 

"Wir fahren nur in außerordentlichen Fällen mit unseren Maschinen über oder auf geöffnete Pisten", so Bieri, "insbesondere mit der Seilwinde wäre das sonst lebensgefährlich!" So könnten Skifahrer oder Snowboarder schnell das neun Millimeter dicke Stahlseil übersehen, an dem sich Pistenmaschinen in schwieriges Gebiet ziehen. "Da dieses bis zu 1000 Meter lang ist, nimmt man die daran hängende Pistenmaschine gar nicht oder nur in großer Entfernung wahr - die Gefahr würde aber direkt vor den Skifahrern lauern."

 

Der über die Sperrung eben noch so verärgerte Gast hat sich mittlerweile vollständig beruhigt - und spendet sogar Lob: "Ihr macht ja schon einen verdammt guten Job. Man nimmt es halt als Selbstverständlichkeit hin, dass alles funktioniert und ärgert sich schnell, wenn mal etwas nicht klappt. Liegt wohl in der Natur des Menschen ..." Reto Bieri freut sich über das Kompliment - muss nun aber auch weiter. In einer halben Stunde soll die Piste freigegeben werden. Dann können der Pistenchef und sein Team auch an diesem Tag verkünden: "Alle Pisten auf Corviglia geöffnet!"

 

Reto Bieri

Reto Bieri stammt aus dem Kanton Zug und ist 2002 ins Engadin gekommen. Damals hat er als Pistenmaschinenfahrer bei den Bergbahnen angefangen. Mittlerweile ist er Pistenchef auf Corviglia und somit auch für den Schnee bei den FIS-Weltcups verantwortlich. Im Sommer ist der 36-Jährige gern mit seinem Bike unterwegs, im Winter bleibt für Hobbys keine Zeit.