Ein Leben zwischen Circusluft und Behördenmief

Lippe aktuell 12. August 2000

Detmold-Pivitsheide (pn). "Manege frei - das Spiel beginnt!" Aufsteigendes Sägemehl, der Geruch von Popcorn, Artisten in glänzenden Pailettenkostümen. Wenn sich der Vorhang im Circuszelt öffnet, sollen die Zuschauer für gut zwei Stunden ihre Alltagssorgen vergessen. Die Artisten lächeln in jeder Situation - ob am Trapez hoch oben unter der Zeltkuppel oder auf dem Manegenboden zwischen Pferden und anderen Tieren.


Clowns sorgen dafür, dass jeder Besucher am Ende der Vorstellung mit nach oben gerichteten Mundwinkeln aus dem Zelt geht.

"Menschen, Tiere, Sensationen" - so erleben Zuschauer den Circus. Hinter dem Vorhang und zwischen den Wagen sieht es oftmals ganz anders aus. Für Artisten und Direktion ist der Circus ein Arbeitsplatz; und sie haben Sorgen wie jeder andere Mensch. "Lippe aktuell" schaute einen Tag lang hinter die Kulissen des Circus Rolina, der noch bis Montag auf dem Festplatz am Eichenkrug in Pivitsheide gastiert.

Wie oft Freddy Ortmann schon die "magischen" Worte "Manege frei!" gesprochen hat, daran kann sich der 39-jährige Direktor des etwas ungewöhnlichen Wirtschaftsunternehmens beim besten Willen nicht mehr erinnern. Er wurde im Circus geboren und hat sich vor etwa zehn Jahren selbstständig gemacht. Seitdem präsentiert Ortmann - zusammen mit seiner Familie und weiteren Artisten - ein zweistündiges Programm. In ein oder zwei Städten pro Woche sorgt der Chef der mittelgroßen Unterhaltungsfabrik dafür, dass man Circusluft schnuppern kann. Das bedeutet auch, dass regelmäßig das Viermastzelt auf- und abgebaut werden muss. "Der Aufbau dauert etwa acht Stunden, der Abbau nur halb so lang. Aber dann müssen ja auch noch Zelt und Wagen zum nächsten Gastspielort gebracht werden", berichtet Freddy Ortmann. Wer im Circus arbeitet, hat man keine geregelten Arbeitszeiten. An Reisetagen kann es schon mal spät werden, bis man es sich endlich im Wohnwagen bequem machen kann. Der Wagen des Direktors ist übrigens im ausgefahrenen Zustand knapp vier Meter breit: es gibt ein geräumiges Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, eine Küche und natürlich auch ein Badezimmer. Aber was ist mit den fünf Kindern der Familie? "Die haben alle ihre eigenen Wagen", schmunzelt der Circus- und Familienchef. "Das ist wie in anderen Familien - ab einem bestimmten Alter wollen halt alle ihr eigenes Reich." Nur der jüngste Artistennachwuchs, der zehn Monate alte Nico, wohnt natürlich noch im elterlichen Wagen. "Viele Leute sind erstaunt, dass wir hier eigentlich ganz normal leben", glaubt Cornelia Ortmann. Und wirklich merkt man kaum einen Unterschied zwischen einem "normalen" Wohnzimmer und dem Wohnzimmer auf Rädern.

Wenn nicht gerade Sommerferien sind, gehen die Kinder vormittags zur Schule. Eine eigene Circusschule können sich in Deutschland nur die ganz großen Unternehmen leisten. So müssen der 15-jährige Andy, die zwölfjährige Manjana, die in der Manege unter anderem Artistik am Trapez zeigt, und die neunjährige Clownin Charlinein jeder neuen Gastspielstadt in eine andere Schule gehen. "Die Reaktionen sind eigentlich immer positiv", berichtet Freddy Ortmann. "Als Circuskinder stehen sie immer im Mittelpunkt. Zum Glück gibt es nur ganz selten negative Erfahrungen mit Lehrern oder Mitschülern.Probleme und Problemchen anderer Art gibt es aber schon: " Es kann aber schon einmal passieren, dass die drei schulpflichtigen Kinder plötzlich mitten in den nordrhein-westfälischen Sommerferien wieder zur Schule müssen, weil der Circus über Nacht nach Niedersachsen weitergezogen ist. "Das ist natürlich ziemlich ätzend", schimpft Manjana. Tauschen möchte sie dennoch auf keinen Fall mit ihren "seßhaften" Mitschülern. "Nach spätestens einer Woche fragen die Kinder, wann es endlich weitergeht. Das ist im Blut...", so der Vater der Nachwuchsartisten.

Freddy Ortmann selbst ist allerdings froh, wenn der Circus mal für längere Zeit auf einem Platz steht, hat er dann doch endlich Zeit für Training und Verwaltung - oder für einen freien Tag mit der Familie. Kleine Pannen können den Tagesablauf schon mal ganz schön durcheinander bringen. Eine gebrochene Anhängerachse, verlorengegangene Post oder fehlerhafte Plakate kosten Zeit und Nerven. Denn nebenbei müssen ja auch noch viele weitere Arbeiten erledigt werden: Werbung aufhängen, Flyer verteilen, Gespräche mit der Stadt führen, für Wasser und Strom sorgen... Sorgen bereitet Freddy Ortmann der stetige Besucherrückgang. "Das ist kein Problem unseres Unternehmens, fast alle Kollegen klagen derzeit", so der Direktor. "Die Menschen haben einfach nicht mehr so viel Geld übrig. Aber unsere eigenen Ausgaben steigen dabei stetig."  Trotzdem macht der Circusfamilie Ortmann ihr Beruf noch Spaß. "Es ist einfach schön, wenn man sieht, dass es den Zuschauern gefällt - und wenn sie nach zwei Stunden fröhlich aus dem Zelt gehen", sagt Ortmann, und hofft, dass es mit den Zuschauerzahlen bald wieder aufwärts geht.