Finster dreinschauend steht er am Ruder eines Schiffes – der Gischt und den Wellen trotzend. Auf seinem Kopf thront ein Hörnerhelm, das Gesicht ist hinter einem wild wuchernden Bart kaum zu erkennen. Ein grober Fellüberwurf überspannt den dicken Bauch und direkt neben dem grimmigen Schwergewicht lagert ein Met-Fass an Deck. So stellen sich wohl viele von uns einen waschechten Wikinger vor – ein Bild, das in der Vergangenheit durch zahlreiche Filme oder auch Comics wie „Hägar der Schreckliche“ vermittelt und gefestigt wurde.
Wer „Wikinger“ in die Suchmaschine „Google“ eingibt, erhält mehr als 1,2 Millionen Treffer – von wissenschaftlichen Abhandlungen über Informationen zu Michael „Bully“ Herbigs neuem Kinofilm „Wickie und die starken Männer“ bis hin zum Kostümverleih, der Hörnerhelme im Angebot hat – das Sinnbild für Wikinger schlechthin. Aber trugen die heroischen Krieger tatsächlich solche Kopfbedeckungen? Wohl nicht! Aus der Wikingerzeit ist jedenfalls kein einziger Helm mit Hörnern gefunden worden. Die meisten Wikinger trugen offenbar kegelförmige Lederkappen. Helme gab es zwar, aber ohne Hörner, die im Kampf nur gestört und das Verletzungsrisiko erhöht hätten.
Der erste „Wikinger“ mit Hörnerhelm trat erst 1869 in Erscheinung, also ziemlich genau 800 Jahre nach dem Ende der Wikingerzeit. Nicht in einer Schlacht, sondern auf einem Kostümball in
Stockholm, wie ein erhaltenes Foto zeigt. Wer sich intensiver mit den „Nordmannen“ beschäftigt, wird feststellen, dass auch andere Fakten eher in den Bereich der Sagen- und Mythenwelt
gehören. So stellten Historiker vom Institut für angelsächsische, nordische und keltische Geschichte der Cambridge-Universität fest, dass Wikinger in Wirklichkeit gepflegte und sensible Männer
mit viel Sinn für Mode und Poesie waren. Auch ihre Lieblingsaktivitäten seien längst nicht so einseitig und gewalttätig gewesen, wie sie oft dargestellt werden. Vielmehr seien sie jahrelang
ohne
größere Kampfhandlungen ausgekommen und hätten, man höre und staune, als begabte Literaten und Illustratoren gewirkt.
Aber zumindest die wilden Bärte und ungepflegten Haare werden Wikinger doch gehabt haben – oder? Ausgrabungen lassen zumindest starke Zweifel aufkommen, denn in zahlreichen Gräbern wurden immer
wieder einfache Scheren und auch Kämme gefunden. Und der zeitgenössische Geschichtschreiber John of Wallingford, der im elften Jahrhundert lebte, schildert, dass sich die skandinavischen
Invasoren nicht nur täglich kämmten, sondern sich auch jeden Samstag wuschen und regelmäßig ihre Kleidung wechselten.
Apropos Kleidung: Lebendige Farben und modische Kleidung sind nicht gerade das, was wir mit Wikingern in Verbindung bringen. Die schwedische Textilforscherin Annika Larsson glaubt aber, herausgefunden zu haben, dass Wikinger orientalische und nordische Modebestandteile kombiniert haben. „Ihre Kleidung war dazu gedacht, auch vorgezeigt zu werden“, schreibt die Wissenschaftlerin in ihrer Dissertation an der Universität Uppsala. Und auch das Hervorheben von Brüsten durch Kleidung war bei den Wikinger-Damen offenbar nicht unbekannt. Aufgrund der Lage von Broschen in den Gräbern kommt Larsson zu der Annahme, dass die Kleidung der Wikingerinnen nicht etwa, wie vielfach angenommen, an den Schultern zusammengehalten wurde, sondern auf Brusthöhe.
Den Grund, warum wir heute so wenig über die Wikinger wissen und warum die schriftlichen Quellen aus der Wikingerzeit „größtenteils mit Vorsicht zu genießen“ sind, weiß Reinhard Hennig, der auf
der Internet-Seite wikinger.org viel Wissenswertes zusammengestellt hat. Die meisten christlichen Schriften seien von Mönchen verfasst worden, die selbst Wikinger-Überfälle miterleben mussten –
und somit „verständlicherweise alles andere als objektiv waren“, erläutert der Skandinavistik- und Geschichts-Student.
So ist auch nicht sicher, ob der Morgen des 8. Juni 793 wirklich so verlaufen ist, wie es überliefert wird: Vor der Küste Englands tauchten im Morgengrauen seltsame Silhouetten auf, die sich bald
als langgezogene Boote mit furchterregenden Drachenköpfen am Bug herausstellten. Ehe die Einwohner der Insel, vorwiegend Bauern und Mönche, reagieren
konnten, sprangen schwer bewaffnete Männer heraus und stürmten an Land. Das Kloster Lindisfarne wurde geplündert, Kreuze aus Gold, Edelsteine, Becher, Kandelaber und wertvolle Manuskripte
geraubt. Mönche, die sich den Wikingern in den Weg stellten, wurden erschlagen. Kurze Zeit später war der Spuk vorbei, die Boote im Dunst verschwunden. Was sie nicht ahnten, wissen wir heute:
Dieses Ereignis markiert den Beginn der Wikingerzeit.
Die Bezeichnung Wikinger ist ein Schmelztiegel für verschiedene Völker aus dem Norden und der Begriff leitet sich vermutlich vom altnordischen Substantiv „víkingr“ ab, das wiederum „Seekrieger
auf langer Fahrt, fern der Heimat“ bedeutet. Und in den Jahren nach 793 machten die Krieger ihrem Namen alle Ehre und sorgten für Angst und Schrecken. Aber nicht alle Wikinger waren furchtbare
Krieger, die pausenlos über die Meere segelten und plünderten. In Wirklichkeit waren viele von ihnen Ackerbauern, Viehzüchter oder Händler, die mit robusten und schnellen Schiffen einen riesigen
Handelsraum befuhren. Aus dem Norden wurden haltbare Lebensmittel wie Stockfisch, Honig und Felle in den Mittelmeerraum und Orient transportiert. Auf dem Rückweg hatten die Schiffe Öle, Wein,
Früchte oder exotische Gewürze geladen.
Im Laufe des zehnten Jahrhunderts wurden Norwegen, Schweden und Dänemark große Königreiche, Missionare bekehrten immer mehr Skandinavier zum christlichen Glauben – und so endete die Wikingerzeit,
die aber viele Spuren hinterlassen hat. Im Stadtmuseum Göteborg ist beispielsweise ein 1933 gefundenes Wikingerschiff mit Runeninschrift zu sehen. Auch in Oslo haben Wikingerschiffe ihren letzten
Ankerplatz gefunden. Die Hauptausstellung im „Vikingskiphuset“ auf der Bygdøy-Halbinsel zeigt drei bemerkenswert erhaltene Schiffe, Oseberg, Gokstad und Tune, die in den königlichen Grabhügeln
rund um die norwegische Hauptstadt gefunden wurden. In Foteviken, ca. 20 Kilometer südlich von Malmö, wird seit 1995 eine komplette wikingerzeitliche Stadt nachgebaut.