Über Irland gibt es viele aktuelle Bücher – Reiseführer, Bildbände und Romane. Also gibt es eigentlich keinen Grund, auf ein über 50 Jahre altes Werk zurückzugreifen. Doch Heinrich Bölls „Irisches Tagebuch“ ist nach wie vor ein Verkaufsschlager in deutschen Buchgeschäften. Über eine Million Mal hat sich der erstmals 1957 veröffentlichte Reisebericht mittlerweile verkauft. Und er gilt nach wie vor als die schönste Liebeserklärung an Irland – obwohl (oder gerade weil?) Böll sie zu einer Zeit verfasste, als die „Grüne Insel“ noch als Armenhaus Europas galt.
Als nach unserer Stena Line Überfahrt von Holyhead aus der Hafen von Dun Laoghaire in Sicht kommt, schließen wir kurz die Augen und erinnern uns an Bölls Eindrücke, die er im
Irischen Tagebuch niedergeschrieben hat: „Langsam stach die Morgensonne weiße Häuser aus dem Dunst heraus, ein Leuchtfeuer bellte rot-weiß dem Schiff entgegen, langsam schnaufte
der Dampfer in den Hafen... Möwen begrüßten ihn, die graue Silhouette von Dublin wurde sichtbar und verschwand wieder: Kirchen, Denkmäler, Docks, ein Gasometer, zögernde
Rauchfahnen aus einigen Kaminen.“
Auch wenn der Hafen sein Gesicht im Laufe der Jahre verändert hat, können wir noch heute gut verstehen, warum dieser Moment für Böll der Beginn einer großen Liebe war – der Liebe
zu Irland und den Iren.
So abstrakt ist die Wirklichkeit
Einige Kilometer vom Hafen entfernt sprechen die modernen Industriegebiete und Vororte Dublins des Jahres 2010 eine deutliche Sprache. Irland hat sich im Laufe der Jahre verändert.
Diese Entwicklung stellte Böll bereits 1967 fest und schrieb 13 Jahre nach seinem ersten Irland-Besuch in einem Essay: „Dreizehn Jahre später, sind in Irland eineinhalb Jahrhunderte
übersprungen und fünf weitere eingeholt worden.“ So stehen auch im Örtchen Limerick, das Böll an einem Donnerstagmorgen Mitte der 50er Jahre besuchte, in der Frühe schon längst
nicht mehr die Milchflaschen vor den Türen. Und auch ruht in der „frommsten Stadt der Welt“ nicht mehr das gesamte Leben, weil alle Einwohner in der Kirche sind, wie Böll
es noch beschrieb: „Plötzlich, noch bevor wir das Zentrum des modernen Limerick erreicht hatten, öffneten sich die Kirchentüren, füllten sich die Straßen, wurden die
Milchflaschen vor den Türen weggenommen. Es war wie eine Eroberung. Die Menschen nahmen ihre Stadt ein ... Beunruhigend normal schien alles, nahe und menschlich, wo es vor
fünf Minuten noch so schien, als spazierten wir durch eine verlassene mittelalterliche Stadt.“ Doch es gibt sie zum Glück noch heute – die kleinen Orte, die Böll einst so
faszinierten. Dörfer, in denen mehr Schafe als Menschen leben und in denen die Häuser auch Denkmäler sein könnten. In den Pubs dieser Ortschaften fließt einst wie heute Guinness
aus dem Zapfhahn – und während die Schaumkrone langsam sinkt, verschwimmen Zeit und Raum in den „Weißt-du-noch-Geschichten“. Man muss vielleicht nur etwas genauer suchen, als Böll es
einst tun musste.
Böll charakterisiert die Iren als „arm, aber herzlich“. Ihr Motto: „It could be worse“ („Es könnte schlimmer sein“). Der gebürtige Kölner taucht in das irische Leben und
Denken ein, ohne viele Worte über die verzwickte Ökonomie oder die noch verzwicktere Geschichte dieses kleinen Staates zu verlieren – und ohne Kritik zu üben. Der
Autor erklärt seine positive Einstellung zu Irland mit wenigen Worten: „Wahrscheinlich gibt es für einen, der Ire ist und schreibt, viel Ärgerliches in diesem Land, aber ich bin
kein Ire, und ich habe Ärger genug mit dem Land, über das und in dessen Sprache ich schreibe...“
Obwohl er nach eigenen Angaben zunächst „nur“ nach Irland geflohen war, weil er sich in Köln durch einen Hausbau hoch verschuldet hatte und Ruhe vor seiner
Familie brauchte, fühlte sich der Schriftsteller so wohl auf der „Grünen Insel“, dass er sich ein Landhaus in Dugort auf Achill Island kaufte. Die Insel liegt
an der Küste von Mayo und ist durch eine Brücke mit dem Festland verbunden. Hier auf Achill Island, am Hang des Slievemore, findet man auch noch immer das „Skelett einer
menschlichen Siedlung“ – 70 Ruinen von Häusern, die seit mehr als 150 Jahren verfallen. Böll schrieb: Würde jemand das zu malen versuchen, dieses Gebein einer menschlichen
Siedlung, in der vor hundert Jahren fünfhundert Menschen gewohnt haben mögen; lauter graue Drei- und Vierecke am grünlichgrauen Berghang; würde er noch das Mädchen mit dem roten
Pullover hinzunehmen, das gerade mit einer Kiepe voll Torf durch die Hauptstraße geht; einen Tupfer Rot für ihren Pullover und einen dunklen Brauns für den Torf, einen helleren
Brauns für das Gesicht des Mädchens; und noch die weißen Schafe hinzu, die wie Läuse zwischen den Ruinen hocken; man würde ihn für einen ganz außerordentlich verrückten Maler
halten: so abstrakt ist also die Wirklichkeit.“
Viele Touristik-Experten glauben, dass Bölls Tagebuch ein wesentlicher Auslöser der Irland-Reisewelle war, die wenige Jahre nach seiner Veröffentlichung einsetzte und bis heute
anhält. Und auch wenn sich vieles verändert hat, kann man auch heute noch einiges von dem, was Böll einst an Irland so begeisterte, spüren, riechen, hören und sehen. Und ergänzt durch
einen aktuellen Reiseführer ist das Tagebuch noch immer eine gute Lektüre für alle, die Irland einen Besuch abstatten möchten.